Wenn die Introjekte, karmischen Themen und Schocktraumata bearbeitet sind, befinden wir uns immer noch in einem Überlebensmodus, der uns vom Tieferen Raum trennt. Anfangs war ich enttäuscht darüber. Ich konnte aber beobachten, dass die Grundhaltung, an der sich durch die aufwändige Vorarbeit nichts geändert hatte, bei meinen Klient*innen irgendwie ähnlich war. Sie war gekennzeichnet durch Bemühung und das Fehlen von Präsenz, Liebe und Stille.
Eine IPS-Schülerin von mir, Agnes Plöckl, hatte sich über viele Jahre mit der Enneagramm-Lehre beschäftigt und sich darin weitergebildet. Sie wies mich darauf hin, dass meine Beobachtung mit dem übereinstimmte, was die Enneagramm-Lehre als Charakterfixierung bezeichnet. Ich wurde neugierig und stellte fest, dass die 9 Enneagramm-Muster sehr detailliert die möglichen Ausdrucksformen der Charakterfixierung beschreiben.
Die Enneagramm-Lehre zeigt einen Weg auf, wie wir uns aus der Identifikation mit der Charakterfixierung bzw. dem Enneagramm-Muster lösen können, damit wir wieder Zugang finden zu unserem ursprünglichen Wesenskern, der unser spezifischer Ausdruck des Göttlichen ist. Dieser Schritt ist ein Quantensprung in eine komplett neue Daseinsform, vergleichbar mit der Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling.
Dieser Weg erfordert einen großen Einsatz an Selbstreflektion. Das bewusste Annehmen dessen, was wir in uns vorfinden, ohne es zu beurteilen oder gar verändern zu wollen, ist das Gegenteil von dem, was wir in der Fixierung ein Leben lang praktiziert haben. Als Überlebensstrategie will uns die Fixierung vor leidvollen Erfahrungen schützen und ist ständig hartnäckig damit beschäftigt, dieses Ziel zu verfolgen. Annehmen, was ist, erweckt zwangsläufig Widerstand und Angst.
Die IPS erleichtert diesen Bewusstseinsprozess, weil sie zunächst einmal die oberflächlichen Schichten bereinigt, die den klaren Blick auf die Fixierung verdecken.
Wenn die Fixierung dann offen als zentrale Überlebensstrategie sichtbar wird, können wir uns an bestimmten Plätzen im Raum wieder an eine heile Quelle in uns erinnern. Wir haben diesen natürlichen Zustand in früher Kindheit von unserem Bewusstsein abgespalten, weil er mit der Überlebensstrategie nicht vereinbar war. Inzwischen haben wir vergessen, dass es diesen Boden in uns gibt. Indem wir uns auf die vorgegebenen Plätze stellen, erleben wir völlig unerwartet, welche Schätze diese verborgene Quelle für uns bereithält: Größe, Vertrauen in sich und ins Leben, Stille, Präsenz, Lust am Dasein, Liebe, Toleranz und Mitgefühl, Bewusstsein, um nur einige zu nennen. Diese Erfahrung stärkt unser Vertrauen, dass die oft mühsame Bewusstseinsarbeit sich lohnt. Gleichzeitig erkennen wir die Diskrepanz zwischen unserem normalen Ichbewusstsein, das Ausdruck unserer Fixierung ist, und dem Zustand, nach dem wir uns meist unbewusst immer schon gesehnt haben. Diese Quelle erscheint uns als die Lösung vieler unserer Probleme. Und das ist sie auch.
Über das bewusst erlebte Eintauchen in diesen vergessenen Seinszustand rückt er uns langsam näher ins Bewusstsein. Wir erleben anfangs nur Momente, später immer längere Zeiten, in denen uns diese Tiefe zugänglich ist. Wir können den Zustand nicht dauerhaft aufrechterhalten, solange die Fixierung in Form von bestimmten Überzeugungen oder Verhaltensmustern immer wieder dazwischenfunkt. Aber dadurch erkennen wir sie auch besser und erleben sie immer deutlicher als das, was sie ist: eine mit Scheuklappen versehene verzerrte Sicht auf die Welt und auf uns selbst.
Das Loslassen der Fixierung ist dadurch mit weniger Angst besetzt. Wir wissen, dass wir nicht in einen bodenlosen Abgrund stürzen, sondern dass wir uns lediglich in unser Sein sinken lassen, das immer schon da war und über das bewusste Erinnern auf den vorgegebenen Plätzen als Realität immer wieder erfahren wurde.
Die Fixierung als zentrale Überlebensstrategie ist nichts anderes als eine Verdrehung unseres Willens, die wir als Kind in Zeiten existentieller Not vornehmen mussten und damals als Rettungsanker erlebt haben. An den vorgegebenen Plätzen erinnern wir uns, wie dieser Wille sein kann: spontan, lebendig, neugierig, lustbetont, freudig, ganz im Hier und Jetzt.
Meistens ist dieser ursprüngliche heile Ausdruck unseres Willens noch überlagert durch seine Eindrücke und Reaktionen auf das Umfeld, das ihn bei seiner Ankunft hier erwartet hat. Diese konnten durch die Introjekt-Arbeit nicht bereinigt werden, weil diese tiefe Schicht des Willens damals noch nicht zugänglich war.
Jetzt können wir die Früchte der aufwändigen Vorarbeit (Introjekte, karmische Themen, Schocktraumata) ernten. Die Introjekt-Arbeit hat eine tiefgreifende Versöhnung mit den Eltern bewirkt und Informationen ans Licht gebracht, die auch bei dem tieferen Willen angekommen sind, so dass sich die Enttäuschung, Verwundung oder Schutzhaltung erstaunlich schnell in Richtung Versöhnung verändern.
Aber das reicht noch nicht. Wenn wir uns aus der Identifikation mit der Charakterfixierung gelöst haben, kann die Arbeit im Tieferen Raum erst beginnen. Und das bedeutet, dass wir uns mit einem bisher verborgenen Nein zu Kontakt und zum Leben auseinandersetzen müssen. Die Enneagramm-Lehre nennt es das Tier oder das Biest in uns. An bestimmten, vorgegebenen Plätzen im Raum können wir diesen lebensverneinenden Willen kennenlernen und ihm über einen urteilsfreien, absichtslosen Kontakt helfen, sein Nein in ein tiefes Ja zum Leben zu transformieren. Dieser Prozess ist vielschichtig und braucht seine Zeit. Aber genau an dieser Stelle wird es auch für sehr gewissenhafte spirituelle Sucher schwierig, alleine weiterzukommen. Denn das verborgene Nein kann meistens nur über Kontakt erkannt und geheilt werden.
Sobald sich dieser tiefe Wille wieder auf das Leben und die Menschen einlassen mag, gibt es keine Trennung mehr zwischen Wille und Liebe. Alle drei Körperzentren (Bauch, Herz und Kopf) verbinden sich nun zu einer Einheit. In diesem Zustand sind wir mit unserem göttlichen Wesenskern verbunden und erleben ihn als einen tragfähigen Boden, von dem aus wir uns auf eine völlig neue Art und Weise auf uns selbst und das Leben einlassen können. Ein wesentliches Merkmal dieser neuen Daseinsform ist die Fähigkeit, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Wir können uns dann den vielfältigen Herausforderungen des Lebens mit einer Haltung stellen, die mit Bewusstsein, Akzeptanz und Vertrauen in die Sinnhaftigkeit selbst schmerzhafter Erfahrungen einhergeht. Die Raupe ist zum Schmetterling geworden. Aber auch der Schmetterling muss mit Regen und Sturm klarkommen.